„Das ist ja fantastisch! Was ist das? Wie krass!“
Publication : 21-11-2021
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Selma Scheele, so heißt unser diesjähriger Gast bei Tête-à-Tête.
Ich kenne Selma schon seit einiger Zeit und wenn wir seit des gemeinsamen Studiums der Theaterpädagogik an der Universität der Künste in Berlin auch nicht fortwährend Kontakt zueinander hatten, so konnten wir doch unser beider Schaffen aus der Ferne gegenseitig mitverfolgen.
Selmas Name springt mir seit Beginn meines Erzählerlebens immer wieder ins Auge; alleine oder gemeinsam mit Musiker*innen tritt sie bei Festivals im gesamten deutschsprachigen Raum auf, leitet Workshops, Fortbildungen, Kurse, erzählt für Kinder und Erwachsene, dies stets lebhaft, mit Leib und Seele, mit Haut und Haar… auf Türkisch und auf Deutsch, ihre beiden Muttersprachen, zwischen denen sie im fliegenden Wechsel hin-und herspringt, ganz selbstverständlich. « Das ist wahre Zweisprachigkeit », meinte ein Zuschauer anlässlich des siebten Internationalen Erzählfests « Die Welt erzählt » in Ludwigshafen.
Mehrsprachigkeit, fliegender Wechsel zwischen den Sprachen…was sonst könnte besser zu Luxemburg passen als eine Erzählerin, die gleich in mehreren Kulturen zuhause ist?
Ich habe Selma in ihren Proben zu unserem gemeinsamen Erzählprogramm “Blutgewinsel” gestört, und mich mit ihr unterhalten; über die Erzählkunst natürlich; über Flow-Momente, die Anerkennung als Künstlerin, aber auch über den Moment, in dem einen die Muse küsst.
Liebe Selma, mir musst du es ja eigentlich nicht mehr erzählen, aber für andere Menschen stellt sich die Frage sehr oft: wie wird man Erzählerin, heutzutage?
Ich glaube, wenn du fünf Erzählerinnen oder Erzähler fragst, dann wirst du tatsächlich fünf unterschiedliche Geschichten hören, weil jede*r Erzählkünstler*in einen ganz anderen Weg hat.
Und doch, glaube ich, ist etwas bei vielen ähnlich: an irgendeinem Punkt kommt man mit dem Erzählen in Berührung, ob zufällig oder frei gewählt, und entweder man fängt Feuer und ist hellauf begeistert, oder… also, ich kenne wenige Erzähler*innen, die sagen: „Ach jaaaa… Ich fand das ganz nett und habe das dann mal so gemacht..“. Die meisten sagen ganz klar: „Ich habe das Erzählen zum ersten Mal erlebt und dachte mir sofort: Das ist es!“
Bei mir war genauso: ich habe Theaterpädagogik studiert, an der UdK in Berlin. Im Studium gab es unter anderem das Fach „Erzählstoffe“ unter der Leitung von Prof. Dr. Kristin Wardetzki. Da saß dann diese alte Dame und erzählte den Gilgamesch-Epos. Zusätzlich lud sie andere Erzähler und Erzählerinnen ein. Ich war von Anfang an total geflasht und dachte: „Das ist ja fantastisch! Was ist das? Wie krass!“
Dann fängst du an, dich intensiver mit dem Erzählen zu befassen und merkst: eigentlich ist das in uns allen drin. Wir erzählen ständig. Gleichzeitig ist das Erzählen eine ganz alte, schöne Form der Kunst, oder auch wieder einen ganz neue. Je mehr ich mich dann damit befasste, desto verliebter wurde ich in diese darstellende Kunstform und in diese Form der Beziehung zum Publikum.
Ich habe im Studium auch zum ersten Mal vor Kindern erzählt und das war dann ein ganz unglaublicher Moment! Dieses Lernen, wie man mit Geschichten umgeht, der Weg vom Text weg hin zu dieser freien, eigenen Sprache zu beschreiten, zu deinem eigenen Körper, zu deiner eigenen Gestik; diese Beziehung, die du selber zu der erzählten Geschichte aufbaust, aber vor allem die Beziehung zu deinem Publikum… das war von Anfang an wunderbar.
Mir wurde recht schnell klar, dass ich das beruflich machen wollte. Eine Zeitlang habe ich noch versucht, in der Theaterpädadogik und in der Erzählkunst gleichzeitig zu arbeiten, habe aber schnell gemerkt, dass ich mich für eins entscheiden musste. Die Entscheidung fiel mir nicht schwer: das Erzählen war’s!
Was ist der Unterschied zwischen der Erzählkunst und anderen Bühnenkunstformen? Ist es vor allem diese besondere Beziehung zum Publikum, diese direkte Anrede, diese Wechselwirkung?
(überlegt) Nicht nur. Es gibt diese direkte Ansprache des Publikums und die Wechselwirkung ja auch in anderen Darstellungsformen, z.B in der Performance- Kunst. Auch hier kommt es auf die Beziehung zum Publikum an, auf das, was das Publikum macht. Und auch das Theater geht ja immer mehr weg von der vierten Wand.
Für mich ist es eher die Beziehung von mir zur Geschichte, von mir zu mir selber, und von mir zum Publikum. Eine Dreiecksgeschichte sozusagen. Ich würde sagen. Erzähler*innen sind viel durchlässiger… und generieren etwas sehr Wichtiges und Grandioses: das Kopfkino! Ich erlebe das beim klassischen Theater nicht so sehr, weil die meisten Bilder schon auf der Bühne produziert werden. Ich kann zwar ein wenig Kopfkino haben, aber ich schaue auch auf die Zeichen, die auf der Bühne produziert werden, und was die in mir auslösen.
Beim Erzählen habe ich hingegen pures Kopfkino und zwar sowohl als Erzählerin als auch als Publikum. Diese imaginierte Welt, die es nur in der Vorstellung gibt und einen doch so stark berühren kann – das ist es, was mich eigentlich fasziniert. Weil es so viel stärker ist als die meisten vorproduzierten Bilder. Und du brauchst dafür nichts!
Wenn ich ins Kino gehe und laut Popcorn esse, oder mich mit meinem Nachbarn unterhalte, dann ist der Film trotzdem der gleiche. Wir erleben es nur selber vielleicht nicht so intensiv, weil wir etwas anderes tun. Auch beim klassischen Theater ist vieles fix, oft haben die Schauspieler*innen schon unter sich so ein festes Ding laufen. Aber beim Erzählen…also, wenn ich da nicht empathisch mitgehe als Publikum, mit allem, was um mich herum passiert, dann funktioniert es nicht. Das Publikum ist Teil des Erzählmoments. Und ich bin Erzählende auch gleichzeitig Zuhörende; ich habe eine ganz andere Verantwortung. Das hört sich jetzt so schwer an…aber man merkt es ja beim Erzählen. Wenn jemand gebannt zuhört, und ich mich dadurch ermutigt fühle, zu improvisieren, dann kann ich da noch tiefer reingehen. Das Zuhören ist essenziell für den Erzählmoment.
Hast du das Gefühl, dass Erzähler*innen als „richtige“ Künstler*innen anerkannt werden?
Das hängt ganz viel vom Setting ab. Wenn ein Theater selbst ein Interesse hat, das Erzählen in sein Programm zu integrieren, dann kann man auch davon ausgehen, dass es im Haus schon als Kunst anerkannt wird. Sehr oft aber wird man immer noch in der pädagogischen oder sozialen Schiene verordnet, weniger in der Sparte Bühnenkunst.
Vor allem, wenn man für Kinder erzählt, wird selten von Bühnenkunst gesprochen, sondern man ist dann eher im Bereich ‚Sprachförderung‘, oder ‚Konzentrationsförderung‘ oder ‚Empathieförderung‘ – auch in der Antragslyrik für Stiftungen. International habe ich da ein anderes Gefühl. In England, oder auch in Amsterdam, ist das Erzählen als Bühnenkunst ziemlich etabliert und wird als solche wahrgenommen. In Deutschland ist es echt noch schwer; man muss das Publikum noch hin „erziehen“. Und nicht nur das Publikum. Schau, es gibt keine Erzählhäuser. Es gibt Theaterhäuser, Musikhäuser…also muss man als Erzählkünstler*in auf eine vorhandene Bühne steigen und steht in Konkurrenz zu anderen Kunstformen. Man muss echt eine gute Beziehung haben zu den Kulturhäusern, in denen man spielt.
Und auch in Deutschland selbst ist es, abhängig von der Region oder Stadt, ganz unterschiedlich. Nehmen wir zum Beispiel das Festival „Zauberwort“ in Nürnberg: der Michl Zirk füllt bei der Eröffnung ein großes Haus, 300 Leute, ausverkauft. Da ist es also schon angekommen, würde ich sagen.
Wie ist es denn in Köln?
(seufzt) Puh…gar nicht. Ich lebe jetzt 9 Jahre in Köln und ich bin überall unterwegs, aber fast nicht in Köln. Ab und zu erzähle ich im Bürgerhaus für Kinder und Familien. Ich habe mal ein paar kleine Schulprojekte gemacht oder auch mal eine Fortbildung, aber künstlerisch bin ich da nie in einer Szene angekommen. Ich kenne auch keine anderen Erzähler*innen in Köln, die so richtig professionell künstlerisch erzählen. Vielleicht gibt es die und ich kenne sie bloß nicht.
Du bist also eher deutschlandweit unterwegs…
Ja genau! Viel in Mannheim, viel in Ludwigshafen, im Ruhrgebiet…und dann halt auf den ganzen Festivals, die es so gibt.
Ludwigshafen und Festival…könnte das ein Stichwort sein?
Jaaaa, also das ist ein großartiges Festival, was über die Jahre da so gewachsen ist. Es läuft allerdings auch unter der Offensiven Bildung; es geht also vor allem um Kinder und Sprachförderung oder Bildung im Allgemeinen. Ausgangspunkt war die Erzählwerkstatt (Anm. Erzählwerkstatt des Heinrich-Pesch-Haus in Ludwigshafen) die der Erzähler Thomas Hoffmeister-Höfener aufgebaut hat. Daraus ist dann ein Festival entstanden; ja auch, weil der große Sponsor (Anm. die BASF) Interesse daran hatte. Man hat gesehen, wie toll das Angebot angenommen wurde, wie sehr sich die Leute freuten. Mittlerweile gibt es aber neben den Kinderangeboten auch Abendveranstaltungen, die sehr gut besucht sind. Es gibt ein Stammpublikum, das das Erzählen ganz klar auch als Kunst wahr nimmt.
Aber natürlich ist das Heinrich-Pesch-Haus in erster Linie ein Bildungs- und Begegnungshaus und keine klassische Bühne.
(Anm. Seit 2019 ist Selma Scheele gemeinsam mit Susanne Tiggemann künstlerische Leitung des internationalen Erzählfestes „Die Welt erzählt!“ in Ludwigshafen und Umgebung)
Ich habe ja oft das Gefühl, dass das Publikum das Erzählen sehr wohl als Kunst annimmt, dass sich aber die professionelle Kunstszene eher schwer damit tut. Dass man ein bisschen belächelt wird, so nach dem Motto „Erzählen kann ja jeder“. Wie stehst du zu dieser Aussage? Kann jeder erzählen?
Das ist tricky. Ich fand des immer ganz schön, wie Ragnhild Mörch (Anm. die Leiterin der Zertifikatsausbildung „Künstlerisches Erzählen“ an der Universität der Künste in Berlin) das bei unserer Ausbildung ausdrückte: Stell dir eine Linie vor. Auf der einen Seite hast du die Alltagserzähler*innen und auf der anderen Seite die Profis, die damit ihr Geld verdienen. Das sagt es aus. Natürlich kann jeder erzählen; wir tun das alle! Aber es ist die Frage, wozu ich das mache. Es geht nicht mal so um die Qualität des Erzählens an sich. Es gibt Alltagsmenschen, denen hört man gerne zu, und anderen kann man einfach nicht zuhören. Es geht eher ums Handwerk. Schau, jeder kann ein Bild malen; da gibt es ein Bild, das hat nur für denjenigen, der es malt, eine Bedeutung. Und dann gibt es Bilder, die sind so gut, dass Leute viel Geld dafür ausgeben, um es sich nur mal anzuschauen.
Das Handwerk, das heißt: Bühnenpräsenz, die Sprache, die Dramaturgie, Durchlässigkeit, Auseinandersetzung mit Stoffen, Recherche und so weiter. Und das Publikum spürt, wenn es einen Profi vor sich hat. Und kann es dann als Kunst anerkennen.
Das merkst du ja auch: wenn das Publikum begeistert ist, dann sagen die Leute sofort „Wow! So etwas könnte ich nicht!“
Wenn ich nun in Fortbildungen mit pädagogischen Fachkräften bin, dann sage ich natürlich: Alle können erzählen! Weil was die machen mit ihren Kita-Kindern, das ist etwas anderes.
Also kommt es wirklich auf die Fragen an: wo erzähle ich, für wen und warum?
Du arbeitest auch viel mit Musiker*innen zusammen. Was kannst du uns dazu erzählen?
Ich finde, dass Musik und Erzählen super gut zusammenpassen, weil beides in den Bauch geht. Gut erzählte Geschichten sind ja nicht nur Kopfkino, sondern berühren dich auch emotional. Genau so ist es mit Musik. Musik kann Geschichten erzählen, zu Musik kannst du Bilder haben. Mein Mann ist Musiker, da hat es sich irgendwann angeboten, zusammen etwas zu machen. Er ist Perkussionist. Es ist immer spannend, zu suchen: wie können Geschichten und Musik auf der Bühne zusammen sein, als ein Bild? Sodass es sich nicht illustriert, dass es sich nicht doppelt, und trotzdem als etwas gemeinsam Erzähltes.
Ich mag es auch, mit Gesang und Klängen zu arbeiten und vor allem mit richtigen Profimusiker*innen. Sodass du plötzlich auf der Bühne und im Zuschauerraum nicht mehr merkst, wo die Musik aufhört und das Erzählen anfängt und umgekehrt.
Es gibt ja unterschiedliche Ansätze. Man kann das abwechselnd bauen: Musik – Geschichte – Musik – Geschichte; oder es auch mehr ineinanderfließen lassen. Ich finde beides gut; die Frage ist immer, wie viel Zeit man hat. Wenn man ziemlich spontan einen gemeinsamen Erzählabend hat, dann macht man halt ganz schnell ein Abwechslungs-Programm. Das ist dann etwas anderes, als wenn man gemeinsam ein richtiges Konzept entwickelt.
Was inspiriert dich bei deiner Arbeit? Woraus ziehst du deine Ideen?
Ja, weißt du…manchmal bereite ich alles schön vor, und dann fangen die Proben an und dann fällt mir nichts ein. Dann geht nichts mehr; es ist einfach leer. Und manchmal liege ich im Bett und kann nicht einschlafen und dann kommt eine Idee. Oder unter der Dusche.
Man kann nicht sagen, wann einen die Muse küsst.
Sie küsst, wenn SIE will, und nicht, wenn DU willst, ne?
Genau so!
Danke dir Selma, das war ein guter Abschluss. Bis bald… in Luxemburg!
Wer noch mehr über Selma Scheele lesen will, findet unter folgenden Links noch so Einiges an Informationen und Eindrücken:
Märzeit (Selmas Homepage )
Pressestimmen:
Westfälische Nachrichten, 2016 (Münster Erzählbühne)
Die Rheinpfalz, 2017 (Die Welt erzählt)